Berlins junge Sporthelden, Serie, Teil 3
(gelesen in der Berliner Zeitung vom 28.08.2020)
Berlin – Lena Röhlings hat den Tag mit gemischten Gefühlen begonnen. Als sie am Morgen aus dem Fenster ihres Zimmers am Olympiastützpunkt in Grünau geschaut hat, sah sie viele Wolken über der Regattastrecke im Berliner Südosten. Was einerseits ein Vorzug ist, denn bei einer solchen Witterung schippern weniger Freizeitkapitäne mit ihren Booten über die Dahme, und das sorgt für weniger störenden Wellengang im Training. Andererseits sind es gerade die frühen Stunden eines sonnigen Tages, die die Kanutin so an ihrem Sport liebt. „Es gibt fast nichts Schöneres, als beim Sonnenaufgang zu paddeln und die Natur zu genießen“, sagt Röhlings.
Was idyllisch klingen mag, hat allerdings nichts mit einem besinnlichen Ausflug auf dem Wasser gemein. Wenn der Puls in den Innenstadtbezirken gemächlich hochfährt, jagt er bei Röhlings und den anderen Kanuten in Grünau schlagartig in die Höhe. In ihrem blauen Boot, auf dem ein Sticker mit ihrem Namen angebracht ist, paddelt die 17-Jährige mal längere, mal kürzere Distanzen. Dabei wirkt sie stark fokussiert. Jede dieser Einheiten versucht sie zu nutzen, um sich dem Ziel Olympia 2024 in Paris zu nähern. „Sie ist eine Nachwuchssportlerin, die ihren Sport lebt wie eine Erwachsene“, sagt Felix Geisen, Trainer am Olympiastützpunkt. „Sie hat einen ausgeprägten Willen, wie ich ihn in diesem Alter selten erlebe.“
Röhlings wird erst nach 250 Metern gestoppt
Als Beispiel verweist er auf die Junioren-WM im vergangenen Jahr. Im Finale im Kajak-Einer über 1000 Meter paddelte sie 250 Meter mehr als die Konkurrentinnen. Als Einzige hatte sie nicht mitbekommen, dass neben ihr ein Fehlstart produziert wurde. „Wahrscheinlich war ich nie in meiner bisherigen Karriere so konzentriert“, sagt sie über das Missgeschick und kann heute darüber schmunzeln. Denn erst nach einem Viertel der Strecke konnte sie vom Schiedsgericht gestoppt werden. „Das war schon ärgerlich, die ersten Meter sind die schnellsten und kraftraubendsten.“ Doch der Ärger in Pitesti (Rumänien) währte nur kurz. Beim Neustart des Rennens paddelte sie ebenso kraftvoll los, nur im Endspurt schwanden ihr etwas die Kräfte. Aber es reichte zur Bronzemedaille. Anfang 2020 wurde sie dann zur Berliner Nachwuchssportlerin des Jahres ausgezeichnet.
Röhlings’ außergewöhnliche Fähigkeiten, sich zu fokussieren und zu disziplinieren, kamen ihr in diesem Jahr besonders zugute, das für alle Leistungssportler ungewöhnliche Methoden erforderte, um sich in der Corona-Pandemie trotz aller Widrigkeiten weiter- statt zurückzuentwickeln. Weil der Olympiastützpunkt zwischenzeitlich geschlossen war, zog sie zurück zu ihren Eltern nach Mittenwalde in Brandenburg. Anstatt auf der Dahme paddelte sie auf einem Kanal, genau nach dem Rahmentrainingsplan, den sie von ihren Trainern erhalten hatte. „Wenn du ein Ziel vor Augen hast, lässt du dich von ein paar Rückschlägen nicht aufhalten“, sagt sie. Radfahren, Laufen, Kraftübungen – alles das, was es außerhalb des Kajaks braucht, um erfolgreich zu sein, konnte sie zu Hause bestens trainieren. Und ganz nebenbei den einen oder anderen Kuchen backen, eines ihrer liebsten Hobbies, um auch mal die Gedanken vom Sport zu lösen.
Wichtige Unterstützung in dieser Phase war Vater Frank, früher ebenfalls erfolgreicher Kanute. Er sorgte einst auch dafür, dass die ganze Familie vom Kanufieber infiziert wurde. Insbesondere Lena, die ein Schmuckkajak an einer Kette um ihren Hals trägt. „Es ist schon sehr hilfreich, wenn die ganze Familie hinter einem steht und den Weg mitgeht, den man eingeschlagen hat“, sagt sie.
Gerade in Röhlings’ jetzigem Alter hat das viel mit Verzicht zu tun. Während viele Jugendliche in normalen Zeiten das Partyleben kennenlernen, Grenzen austesten und auch mal ohne Verpflichtungen durch die Welt reisen, ist bei ihr alles dem Leistungssport untergeordnet. Was Röhlings allerdings nicht als große Last empfindet. „Man muss eben Prioritäten setzen“, sagt sie, „nach einer Saison ist dann auch mal Zeit, um feiern zu gehen.“ Was sie von einigen ambitionierten Sportlern unterscheidet, wie ihr Trainer weiß. „Jeder muss in dem Alter mal eine wilde Sau sein. Aber sie stört es einfach nicht, den richtigen Moment dafür abzuwarten.“
Zumal sie nun an einem wichtigen Punkt ihrer sportlichen Karriere steht. Ihr starker Auftritt bei der Junioren-WM galt als Überraschung. „Da gehörte ich noch zu den Jüngeren“, sagt Röhlings. „Jetzt ist die Situation eine andere, ich bin die Gejagte.“ Und im kommenden Jahr wechselt sie vom U19- in den U23-Bereich. Wo es für sie dann zunächst mal darum geht, den Anschluss und ihren Platz zu finden.
Während sich zahlreiche Teamkolleginnen ganz auf den Sport konzentrieren können, drückt Röhlings weiterhin die Schulbank der Flatow-Oberschule. Auch wenn die Lehrpläne der Eliteschule des Sports auf die Bedürfnisse der Athleten abgestimmt sind, ist die Doppelbelastung eine Herausforderung. „In unserem Sport brauchst du für das spätere Leben einen guten Abschluss“, sagt sie. Entsprechend muss sie zusätzliche Zeit investieren, um in Sachen Technik und Kraft die Lücken zu schließen.
Vor diesem Hintergrund waren die besonderen Umstände in diesem Jahr sogar hilfreich. Denn weil die Junioren-WM in Brandenburg/Havel wie so viele andere Wettbewerbe ausgefallen ist, was sie aufgrund der Nähe zur Heimat natürlich bedauert, blieb mehr Zeit, um an der Technik zu feilen. „Bei jedem Schlag gibt es noch Schwachpunkte“, sagt Röhlings. Die Trainer, die im Motorboot an der Seite der Sportler fahren, achten pedantisch darauf, dass alle Körperteile richtig eingesetzt werden. Davon profitiert Röhlings auch, wenn sie sich ihrer Zweitdisziplin, dem Kanu-Marathon, widmet. Die Wettkämpfe gehen dann gerne mal ein bis zwei Stunden. Vom 1. bis 4. Oktober findet im ungarischen Györ die EM statt. Sowohl im Einer als auch im Zweier muss sie eine Strecke von 19 Kilometern hinter sich bringen.
Röhlings’ Fokus liegt aber natürlich auf den Sprintstrecken. 3000 bis 4000 Trainingskilometer paddelt sie im Jahr für den Traum, Olympionikin zu werden. Diese langfristige Perspektive birgt die Gefahr, dass man sich zwischendurch gewisse Sinnfragen stellt. „Ich muss auch noch mehr lernen, von Erfolgen länger zu zehren“, sagt sie selbstkritisch. Denn ihre Akribie und ihr Ehrgeiz können manchmal sogar etwas hinderlich sein: „Wenn das Pflaster mal nicht richtig sitzt, kann es bei ihr schnell kriseln“, verrät Trainer Geisen.
Nach den Deutschen Meisterschaften vor zweieinhalb Wochen herrschte aber vor allem Zufriedenheit. Bei den Wettkämpfen in Duisburg, die zugleich den Neustart nach der Corona-Zwangspause bedeuteten, sammelte sie drei Medaillen. Über die 200 und 500 Meter gewann sie Bronze, Silber sprang über die Strecke von 1000 Metern heraus.
Mit diesen Platzierungen konnte sie sich zugleich für die Olympic Hope Games qualifizieren, die im September im ungarischen Szeged stattfinden sollen. Es wird der einzige internationale Wettkampf in diesem Jahr sein. Er kann auch einen Vorgeschmack geben, wie es sich eines Tages anfühlt, gegen die besten Kanuten bei Olympischen Spielen anzutreten.